Das Wiener Dommuseum thematisiert mit der sehenswerten Ausstellung „arm & reich“ die Ursache vieler Konflikte.
Jede Person ist ein einzigartiges Individuum. Die Welt wäre langweilig, wenn alle Menschen gleich wären. Das wird vermutlich kaum jemand bestreiten. Aber ebenso unbestritten dürfte sein, dass Ungleichheit – insbesondere die Kluft zwischen jenen, die im Wohlstand leben, und jenen, die Tag für Tag um ihre Existenz kämpfen müssen – die Quelle vieler Auseinandersetzungen, wahrscheinlich sogar die Hauptursache für die meisten Probleme ist. Es verwundert nicht, dass derzeit das Dom Museum Wien dieses Thema in der Schau „arm & reich“ aufgreift, denn dieses 2020 mit dem Österreichischen Museumspreis ausgezeichnete Haus hat sich in jüngster Zeit durch Ausstellungen zu den Schnittstellen von Gesellschaftspolitik und Kunst – auch in der Gegenüberstellung von sakralen und profanen Werken – einen Namen gemacht
Direktorin Johanna Schwanberg betont, dass sich die Thematik dieser Ausstellung durch die ganze Geschichte und auch durch die christliche Kunst zieht. Schon eine Inschrift „Ich hasse Arme“ aus dem antiken Pompeji weist auf die Ausgrenzung von Armen hin. Die Kirche hat einerseits große Reichtümer angehäuft, auf der anderen Seite haben sich Christen und kirchliche Einrichtungen immer durch besonderes soziales Engagement ausgezeichnet.
Die Ausstellung will die Mittel der Kunst nutzen, um Unsichtbares sichtbar zu machen, um den von Armut Betroffenen ein Gesicht und eine Stimme zu geben. In Krisenzeiten bekomme das Thema besondere Aktualität, sagt Schwanberg: „Sozioökonomische Ungleichheit ist eine Grundkonstante unterschiedlicher Gesellschaften und Epochen. Neu ist allerdings, dass die Schere zwischen Arm und Reich infolge der Pandemie erstmals fast überall auf der Welt gleichzeitig weiter aufgegangen ist.“
Unter dem passenden Titel „Die große Schere“ sind die Objekte am Beginn der Schau zusammengefasst. Im ersten Raum zeigen Fotoarbeiten der Libanesin Lamia Maria Abillama brasilianische Frauen der Oberschicht und stellen diese ihren Haushälterinnen gegenüber. In der Ecke bettelt eine Skulptur mit dem Titel „Sitzender“ – eine Arbeit des deutschen Künstlers Albrecht Wild – um Almosen, daneben laufen auf einem LED-Display Texte mit Bitten um Hilfe in mehreren Farben und Sprachen. Als Gegenstück zu diesen Werken aus dem 21. Jahrhundert dient ein buntes spätmittelalterliches Tafelbild eines Flügelaltars, um das Jahr 1502 entstanden und einem schwäbischen Meister zugeschrieben, das eine der berühmtesten Szenen christlicher Mildtätigkeit darstellt: Der heilige Martin von Tours teilt seinen Mantel mit einem Bettler. Auf diesem Bild bedrängen sogar zwei Bettler den Heiligen, der sich dem körperlich Schwächeren der beiden zuwendet. Genau solche Sprünge durch die Epochen machen die Ausstellungen im Museum im Schatten des Stephansdoms so reizvoll und faszinierend.
Um „Gesichter und Geschichten“ geht es im nächsten Bereich. Ein um 1650 von Luca Giordano gemalter „Bettler“ aus dem Wiener Kunsthistorischen Museum strahlt nicht nur Armut, sondern auch Würde aus. Ihm gegenüber zeigt Andrea Appianis „Napoleon I. Bonaparte als König von Italien“ einen selbstbewussten Herrscher im vollen Ornat auf dem Höhepunkt seiner Macht.
Um 1860 ist Ferdinand Georg Waldmüllers Ölgemälde „Bautagelöhner erhalten ihr Frühstück“ entstanden, das beschaulich wirkt, aber zugleich das Problem der Kinderarbeit bewusst macht und bei der Anordnung der Kinder auf die christliche Tradition der Noli-me-tangere-Darstellung verweist. Das gleiche Thema behandelt das 1828 entstandene Gemälde „Frierender Brezelbub vor der Dominikanerbastei“ von Peter Fendi, bei dem man unwillkürlich an Hans Christian Andersens Märchen „Das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzern“ denken muss. Da dieses Bild in der NS-Zeit aus dem Kunsthandel angekauft wurde, handelt es sich möglicherweise um entzogenen Besitz, darum ersucht der gegenwärtige Eigentümer, das Wien Museum, um sachdienliche Hinweise auf Vorbesitzer.
Heutige Formen von ausbeuterischer Kinderarbeit in über 30 Ländern beleuchtet das 1990 begonnene Langzeitprojekt „Child Labour Exploitation“ des spanischen Fotografen Fernando Moleres. „Durch die Wiener Quartiere des Elends und Verbrechens“ streifte 1906 der Jurist und Amateurfotograf Hermann Drawe mit dem Journalisten Emil Kläger – das bei diesen frühen Sozialreportagen auf problematische Art, nämlich ohne Einverständnis der Betroffenen, gesammelte Bildmaterial wurde bis 1908 mehr als dreihundertmal in Form von Glasdiapositiven in Lichtbildervorträgen im Wiener Volksbildungshaus Urania präsentiert. Welch ein Gegensatz zu einem etwa hundert Jahre später entstandenen Bild aus der Fotoserie „Generation Wealth“ der Amerikanerin Lauren Greenfield! Sie begleitete mehrere Jahre das luxuriöse Leben der Familie des Multimillionärs David Siegel, die allerdings durch die Finanzkrise 2008 hart getroffen und zum Inbegriff des gescheiterten American Dream wurde. Greenfield ist auch noch mit einem Bild des selbsternannten, deutlich übergewichtigen „Limo King“ vertreten, der mit Mobiltelefon am Ohr in einem luxuriösen Ambiente lungert.
Auf die große Wirtschaftskrise des vorigen Jahrhunderts nimmt das als Buchillustration entstandene Blatt „Spitzenprodukte des Kapitalismus“ von 1932 Bezug. John Heartfield zeigt hier mit dem Hinweis auf 20 Millionen Arbeitslose einen Mann mit dem Schild „Nehme jede Arbeit an!“ und daneben ein teilnahmslos schauendes Modell, das ein Brautkleid um 10.000 Dollar mit einem langen Schleier aus kostbarer Spitze trägt.
Wie sich „Kritik, Widerstand und Protest“ zum Thema Ungleichheit durch die Geschichte ziehen, sehen die Besucher im nächsten Abschnitt der Ausstellung. Beredte Beispiele sind Graphiken aus der Wiener Albertina, Rembrandts Radierung „Das Hundertguldenblatt“, die auf Vorlagen von Pieter Bruegel dem Älteren beruhenden Kupferstiche „Die großen Fische fressen die kleinen“ und „Kampf der Geldkisten und Sparbüchsen“ sowie sechs Blätter von Käthe Kollwitz mit dem Titel „Ein Weberaufstand“. Die Bilder von Kollwitz verdanken ihre Entstehung dem Besuch der Uraufführung des Theaterstücks „Die Weber“ von Gerhart Hauptmann im Jahr 1893 durch die Künstlerin.
Inmitten dieses Raums steht ein martialisch anmutendes Fahrzeug, Krzystof Wodiczkos „Homeless Vehicle“ aus den späten 1980er Jahren. Solche Gefährte dienten damals Obdachlosen in New York und Philadelphia als mobile Wohn- und Transporteinheiten, boten Schutz vor Schlechtwetter und tätlichen Angriffen und eigneten sich auch als Sammelbehälter für Pfandflaschen. Zugleich wiesen diese Konstruktionen auf Ausgrenzung, soziales Elend und die Gentrifizierung ärmerer Stadtviertel hin.
An eine ungewöhnliche Aktion des Künstlers David Hammons in New York erinnert das Foto „Bliz-aard Ball Sale“ von Dawoud Bey, das auch als Plakat der Ausstellung dient: Am 13. Februar 1983 bot nach einem Schneesturm ein Mann mit dunklem Mantel, Hut und Backenbart am Cooper Square in Manhattan Schneebälle in unterschiedlichen Größen zum Verkauf an – eine Reaktion auf die Kürzung von Geldmitteln im Sozialbereich unter Präsident Ronald Reagan.
Ein weiterer Bereich der Ausstellung ist mit dem Titel „Symbole, Materialien und Werte“ überschrieben. Einem Kelch aus Gold- und Edelsteinen steht hier ein schlichter Zinnkelch gegenüber – ein Hinweis, dass die Kostbarkeit von Materialien für den christlichen Glauben nicht entscheidend ist. Am Beispiel von Reliquien wird aufgezeigt, wie ein ideeller Wert, in diesem Fall der religiöse Wert der Überreste von Heiligen, den materiellen Wert bei weitem übersteigen kann. Ein „Reliquiar“ aus dem Stephansdom – auf den man aus den Fenstern des Dom Museums gut sehen kann – ehrt Franz von Assisi und Elisabeth von Thüringen, zwei im Reichtum aufgewachsene Heilige, die sich später den Armen zuwandten.
Von Joseph Beuys stammt die Parole „Kunst = Kapital“, die hier in roter Handschrift auf einer schwarzen Schiefertafel präsentiert wird. Nimmt man ein anderes Beuys-Diktum – jeder Mensch sei ein Künstler – hinzu, ergibt sich die Schlussfolgerung, dass jeder Mensch ein Kapitalist ist. Beuys sieht freilich das wahre Kapital des Menschen nicht in materiellen Besitztümern, sondern in seiner Fähigkeit zu kreativem Schaffen.
Danach begeben sich die Besucher an „Orte der Ungleichheit“ und damit zu einem aktuellen Highlight der Ausstellung, das Bezug zu einem südamerikanischen Armenviertel hat. Mitglieder des „Projeto Morrinho“, eines brasilianischen Künstlerkollektivs, haben für das Dom Museum eine dreidimensionale Miniaturfavela installiert – bestehend aus Holz, Erde, Zement, Ziegelsteinen, Farbe und Spielfiguren. Das Vorbild dafür, der „Morrinho“ (kleine Hügel), ist eine auf 450 Quadratmeter angewachsene Installation in Rio de Janeiros Favela Pereira da Silva. Dieses Projekt, das in den 1990er Jahren Jugendliche mit bunt bemalten Ziegelsteinen und Legofiguren begonnen haben, wurde 2007 auf der Biennale von Venedig gezeigt. In Wien begleitet ein zwölfminütiger Film die Installation und gibt Einblick in das unsichere Alltagsleben in einem Armenviertel.
Mit dem Kapitel „Teilen und Teilhabe“ endet der Rundgang durch die Ausstellung. Da weist Michelangelo Pistoletto, Mitbegründer der Arte povera und Konzeptkunst, in riesigen Holzlettern auf das Problem „Hunger“ hin (1988), da schließt Thomas Struth mit seinem Projekt „Obdachlose fotografieren Passanten“ (2004) an den „erweiterten Kunstbegriff“ von Joseph Beuys an, der mitten in die Gesellschaftspolitik hineinführt. Im Dialog stehen diese modernen Werke mit Objekten, die das stetige Bemühen des Christentums um Anteilnahme am Los der Armen illustrieren. Es sind Ferdinand Georg Waldmüllers Gemälde „Die Klostersuppe“ aus dem 19. Jahrhundert, Flügelaltarbilder zum Thema „Werke der Barmherzigkeit“ (1490-1500) aus Altmünster in Oberösterreich und ein besonders berührendes Tafelbild aus der Zeit um 1460, das vom italienischen Künstler Lorenzo die Pietro, genannt „Il Vecchietta“, und seiner Werkstatt stammt. „Der heilige Franziskus vermählt sich der Armut“ zeigt den als „Poverello“ in die Geschichte eingegangenen Heiligen aus Assisi in schlichter Kutte, wie er die Allegorie der Armut, barfüßig wie er, bei der Hand nimmt.
Die Ausstellung, die Objekte aus Beständen des Dom Museums, einige moderne Auftragswerke und viele Leihgaben zeigt, setzt eindrucksvoll die junge Tradition dieses Museums fort, Kunst in Beziehung zu gesellschaftspolitischen Problemen zu präsentieren. In diesem Fall wird eindringlich gezeigt, wie Kunst für das Problem Ungleichheit sensibilisieren und sogar zu entsprechenden Aktionen motivieren kann.
arm & reich
Dom Museum Wien
1010 Wien, Stephansplatz 6
Bis 28. August 2022