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„Fürchtet euch nicht!“

In einer zunehmend gespaltenen Gesellschaft und im Zeitalter „persönlicher Feiertage“ wird Weihnachten als Anlass zum gemeinsamen Feiern zur Herausforderung. Ein Text aus der „Wiener Zeitung“.


Alle Jahre wieder sollen wir uns daran erfreuen, dass der Schnee leise rieselt, dass die Glocken süßer als sonst klingen, sich strahlende Kinderaugen im Kerzenlicht spiegeln, wir vor oder nach dem Austausch von mehr oder weniger gut ausgewählten Geschenken mit lieben Menschen bei köstlichen Speisen und erlesenen Getränken beisammensitzen.

Erleben wir heutzutage wirklich Weihnachten so idyllisch und fröhlich, wie es altbekannte Lieder und Bräuche zum Ausdruck bringen? Der einst als „stille Zeit“ beschriebene Advent geht längst in Hektik unter, die „gnadenbringende“ Weihnachtszeit im Trubel gnadenloser Kommerzialisierung. Natürlich genießt man gerne eine Reihe arbeitsfreier Tage, aber mit allen Vorbereitungen und Begleiterscheinungen bewirken die Feiertage bei vielen mehr Stress, und Gewichtszunahmen, als Erholung und Besinnlichkeit, wie sie der moderne Mensch sicher nötiger hätte.

2021 ist freilich wie schon 2020 – aber hoffentlich nicht alle Jahre wieder – die Lage etwas anders. Gerade in der außergewöhnlichen Zeit einer Pandemie, in der ständig neudeutsche Wörter wie Lockdown, Homeoffice (ein Engländer könnte annehmen, dass sich plötzlich fast alle im Innenministerium aufhalten) oder Distance Learning unser Leben bestimmen, verschwimmen die Grenzen zwischen Arbeits- und Freizeiten. Der Kalender bleibt freilich gleich, beschert uns alljährlich die traditionellen Feste und konfrontiert uns heuer vielleicht sogar mehr als sonst mit der Frage: Was bedeuten uns Feiertage?

Liebe, Frieden und Familie

Würde der „Ö3-Callboy“ danach fragen, welchen Ursprung und Sinn bestimmte Feiertage haben, bekäme er vermutlich sehr viele falsche oder nur halb zutreffende Antworten. Und selbst wenn er richtige Antworten bekäme, bleibt offen, wie viele Menschen mit dem Inhalt bestimmter Feste etwas anfangen können. Aber auch wer nicht religiös ist, wird diverse kirchliche Feiertage nicht missen wollen, wie auch jemand, der mit der Arbeiterbewegung oder nationalen Gefühlen nichts am Hut hat, in der Regel den 1. Mai oder den 26. Oktober gerne als freie Tage freudig begrüßt. In einer zunehmend individualistischen Gesellschaft, der es schwer fällt, gemeinsam bestimmte Anlässe feierlich zu begehen, hat ja vielleicht sogar das Modell „persönlicher Feiertage“ – der eigenartige Kompromiss nach der heftigen Diskussion um den Karfreitag – Zukunft. 

Was feiern wir nun zu Weihnachten? Das Fest erinnert an die Geburt Jesu Christi, werden in einem Land, dessen Einwohner immer noch mehrheitlich christlich getauft sind, die meisten sagen. Natürlich ist auch der Hinweis korrekt, dass um diese Zeit schon in vorchristlichen Kulturen die Wintersonnenwende zelebriert wurde und die Christen diesen Termin nur vom römischen Sol-invictus-Fest übernommen haben.

Für gläubige Christen ist mit der Geburt Jesu im Stall von Bethlehem Gott Mensch geworden. Weniger religiöse Menschen werden zwar zum Teil Jesus als bedeutende Persönlichkeit akzeptieren, aber keineswegs als Sohn Gottes. In säkularisierten Gesellschaften hat sich Weihnachten daher in erster Linie als Fest der Liebe, des Friedens und der Familie etabliert.

Wahrscheinlich besteht auch in einer pluralistischen Gesellschaft relativ große Einigkeit darüber, dass die Menschheit solche Feste der Liebe und des Friedens braucht, mögen sie religiösen Ursprungs sein oder nicht. 

Offenbar, und das erschwert derzeit das Feiern, hat sich allerdings der Pluralismus mehr und mehr zu einer Polarisierung zwischen relativ großen Teilen der Bevölkerung entwickelt. Bei dieser Entzweiung, die manche bereits Spaltung nennen, spielt aber weniger die religiöse Haltung, sondern die Einstellung zu bestimmten Problemen, aktuell etwa zur Corona-Pandemie, die Hauptrolle. Damit stehen wir vor der Frage: Sind wir, wenn der Riss oft mitten durch Familien, Freundeskreise, Arbeitsgemeinschaften geht, feierfähig? Können wir freudig und friedlich gemeinsam um den Christbaum stehen oder am Weihnachtstisch sitzen, wenn jederzeit heftiger Streit entbrennen kann? Wenn nicht alle Anwesenden diszipliniert gewisse Reizthemen meiden, können dann buchstäblich die Fetzen fliegen, zumal ja meist nicht sachlich diskutiert wird, sondern zumindest eine Streitpartei rasch nur noch emotional agiert.

Lagerdenken und Polarisierung

Dass es innerhalb einer Bevölkerung sehr unterschiedliche Positionen gibt, ist weder neu noch negativ. Alles andere wäre langweilig und würde auch jeglichen Fortschritt, der oft auf dem Austausch verschiedener Ansichten beruht, bremsen. Bedenklich wird es, wenn ein echtes Lagerdenken einsetzt, wenn man allen anderen Meinungen mit Feindseligkeit, wenn nicht sogar mit Hass begegnet. Wird nicht einmal im Ansatz die Möglichkeit in Betracht gezogen, die andere Seite könnte zumindest teilweise Recht haben und nicht nur Böses und Falsches, sondern Gutes und Richtiges anstreben, dann ist eine echte Spaltung eingetreten.

Schon der Fanatismus der Anhänger mancher Fußballvereine oder einzelner Musik- und Filmgrößen wirkt mitunter beängstigend, betrifft aber meist nur relativ kleine Personenkreise. Mehr Sorgen bereiten wachsende Polarisierungen in anderen Bereichen, die wir alle kennen. Da geht es um die Einstellung zu Corona und Impfung, zu Flucht, Zuwanderung und Asyl (wo man in Europa derzeit nicht gerade die christliche Weihnachtsbotschaft befolgt), zur Ernährung (Veganer und Vegetarier auf der einen, Omnivoren und „Karnisten“ auf der anderen Seite), zum Klimaschutz, zum Bildungssystem, zur Gesundheit (alternative Heilmethoden kontra Schulmedizin) und zu bestimmten Politikern und deren Parteien. 

Natürlich hat jeder das Recht auf eine eigene Meinung, sie sollte aber nicht auf „alternativen Fakten“, die objektiv nicht nachvollziehbar sind, basieren. Nicht akzeptabel sind auch unsachliche, auf Beleidigung abzielende Formulierungen, etwa wenn ein Politiker, der wissen müsste, dass er dabei weit über jedes Ziel hinausschießt, behauptet, in seinem Land sei die „dümmste, verlogenste, sadistischste Regierung Europas“ am Ruder.

Wird der Ton zu rau und womöglich noch durch demagogische Anführer verschärft, kann es zu Konflikten kommen, die mit brutaler Gewalt ausgetragen werden und viele – oft an den Zwistigkeiten völlig schuldlose – Opfer fordern. Was einzelne sagen oder tun, ist dann meist völlig nebensächlich, es genügt, zur Gruppe der anderen zu gehören, zu einer anderen Familie, zu einer anderen Ortschaft, zu einer anderen Volksgruppe, zu einer anderen Partei, zu einer anderen Religion. Nicht nur die Liebe, auch der Hass kann blind machen. 

Besonders treffend illustriert das eine zumindest gut erfundene Begebenheit aus Nordirland am Höhepunkt des dortigen Bürgerkrieges: An einer Straßensperre wird ein Mann schroff gefragt: „Protestant oder Katholik?“ Der Mann antwortet: „Weder noch, ich bin Atheist.“ Nach kurzem Zögern kommt scharf die Nachfrage: „Protestantischer oder katholischer Atheist?“

Das Kind aus der Krippe von Bethlehem hat als erwachsener Mann oft gesagt „Der Friede sei mit euch!“, aber laut dem Matthäus-Evangelium (10. Kapitel) auch einmal: „Ich bin nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern das Schwert.“ Diese Stelle als Hinweis auf die Gewaltbereitschaft des Christentums zu interpretieren, was mitunter – im Widerspruch zu zahllosen anderen, geradezu pazifistischen Bibelstellen – geschieht, greift zu kurz. Das hier gemeinte Schwert tötet nicht, deckt aber Zwietracht auf, konkret zwischen jenen, die sich zu Jesus bekennen, und jenen, die das nicht tun. Diese Spaltung kann auch mitten durch Familien, Hausgemeinschaften und Freundeskreise gehen, soll aber nicht dazu führen, dass man mit Waffen aufeinander losgeht. Nicht zuletzt sagt Jesus bei seiner Gefangennahme (im 26. Matthäus-Kapitel): „Wer zum Schwert greift, wird durch das Schwert umkommen.“ 

Tiefere Ursache: Ungleichheit

Das Problem von Spaltungen ergibt sich nicht aus unterschiedlichen Meinungen oder Weltanschauungen, sondern aus der oft damit verbundenen Intoleranz. Sie führt zum Schüren von Feindbildern, zu einer Polarisierung, die inhaltliche Debatten vermeidet oder dabei unseriös beziehungsweise mit „Fake News“ arbeitet und schließlich verbaler, aber auch echter Gewalt die Tür öffnet. Wer sich mit Geschichte befasst, weiß, wie gefährlich extrem verhärtete Fronten sind, wie rasch hier von einem Tag auf den anderen Pulverfässer entstehen, die ein kleiner Funke zum Explodieren bringen kann. Oft liegt die tiefere Ursache dafür in wirtschaftlicher Ungleichheit, in einer wachsenden Kluft zwischen Arm und Reich, mag sie sich auch an anderen Themen entzünden. Weihnachten mit seiner Botschaft vom Kind, das in einem Stall zur Welt kommen musste, „weil in der Herberge kein Platz war“, ist ein guter Anlass, den Blick über den heimischen Tellerrand hinaus auf die Problematik der immensen Ungleichheit auf unserem Planeten zu werfen.

Wir leben in einer zerrissenen Welt, in der die Güter und Einkommen, die Chancen auf Bildung, politische Mitsprache, soziale Sicherheit und eine intakte Umwelt äußerst ungleich verteilt sind, nicht nur zwischen den einzelnen Erdteilen, sondern auch innerhalb der Kontinente und der dortigen Länder. Auch die Europäische Union geht oft nicht einig vor, wie es einer „Wertegemeinschaft“ anstünde.  Mag sein, dass uns die Spaltung der westlichen Industriegesellschaften heute nur mehr bewusst ist als früher. Ziemlich sicher tragen dazu die „sozialen“ neuen Medien bei, die mit ihren Algorithmen „Blasen“ entstehen lassen und zugleich zu einem Instrument raffinierter Kriegsführung geworden sind. 

Der Verdacht liegt nahe, dass vor allem Diktatoren und autoritäre Staatenlenker, die im eigenen Land brutaler denn je gegen jede Opposition vorgehen, via Internet an der Destabilisierung anderer Länder arbeiten. Sie haben vermutlich zur Vertiefung von Spaltungen in westlichen Ländern kräftig beigetragen, etwa in Großbritannien (pro und kontra Brexit) oder in den USA (für oder gegen Donald Trump). Es ist erst gerade ein Jahr her, dass das Vereinigte Königreich (mit 1. Jänner 2021) die Europäische Union verließ und dass radikale Trump-Anhänger mit ihrem Sturm auf das Kapitol (am 6. Jänner 2021) die amerikanische Demokratie erschütterten.

Ein Land kann und soll viel Verschiedenheit aushalten, aber es gerät in Gefahr, wenn das Misstrauen und die Missgunst zwischen den Menschen überhand nehmen. Mit ihrem Satz „Vertrauen ist das wichtigste Kapital in der Politik“ traf die abgetretene deutsche Kanzlerin Angela Merkel in ihrer Abschiedsrede wieder einmal den Nagel auf den Kopf. Das nicht nur in der Politik, sondern im menschlichen Umgang überhaupt unentbehrliche Vertrauen ging – anscheinend parallel zum religiösen Glauben – in den letzten Jahren vielen verloren. Denn ständig schüren Skandale – in der Politik, in der Kirche, in der Wissenschaft, in der Wirtschaft, in der Welt der Medien, im Sport et cetera –, nicht nur gegenüber den direkt betroffenen Personen und Institutionen, sondern allgemein ein tiefes Misstrauen. 

Man hält es mit Johann Nestroy: „Ich glaube von jedem Menschen das Schlechteste, selbst von mir, und ich hab’ mich noch selten getäuscht.“ Wenige werden von Natur aus misstrauisch sein, doch sie werden es umso mehr, je öfter ihr Vertrauen enttäuscht wurde, je mehr schlechte Erfahrungen sie machen mussten. Leider schütten die Enttäuschten oft das Kind mit dem Bad aus und fällen undifferenzierte Pauschalurteile über ganze Gruppen: Die Bösen sind dann „die“ Ausländer, „die“ Politiker, „die“ Wissenschafter, „die“ Medien oder überhaupt „die da oben“. Es mag bequem sein, solche Schrotladungen abzuschießen, es ist aber falsch. Fehlerlose Menschen wird man nirgends finden, aber in jedem Bereich solche, deren Fachkenntnis und Charakter man in hohem Maß vertrauen kann.

Einmütigkeit im Notwendigen

Ein lateinischer Satz könnte nicht nur zur Beilegung innerkirchlicher Konflikte, für die er formuliert wurde, sondern auch gesamtgesellschaftlich hilfreich sein: „In necessariis unitas, in dubiis libertas, in omnibus caritas“ (Im Notwendigen herrsche Einmütigkeit, im Zweifelhaften Freiheit, in allem aber Nächstenliebe). Man hat diesen Spruch lange dem Heiligen Augustinus zugeschrieben, er ist aber erst 1617 im Hauptwerk „De Republica Ecclesiastica“ des kroatischen Gelehrten und Theologen Markantun de Dominis nachweisbar, wobei dort noch von „non necessariis“ statt von „dubiis“ die Rede ist. 

Diese Sentenz – sie wurde zu einem Leitspruch der katholischen Studentenschaft – wirft eine wichtige Frage auf: Wie unterscheidet man das Notwendige vom Zweifelhaften? Beim aktuellen Thema Covid-19 sieht zum Beispiel die Mehrheit ein einheitliches Vorgehen auf Basis der Erkenntnisse der überwiegenden Mehrheit der Experten als notwendig an, eine lautstarke Minderheit sieht diese Notwendigkeit nicht, bezweifelt die offiziellen Daten und pocht auf ihre Freiheit. Dass so etwas wie Liebe im Umgang dieser Gruppen miteinander herrscht, lässt sich nicht behaupten. Freiheit ist ein hohes Gut, aber richtig verstandene Freiheit nimmt sich selbst zurück, wenn die Freiheit aller anderen auf dem Spiel steht.

Wann, wenn nicht zu Weihnachten, sollte das Verbindende über das Trennende gestellt werden? Viele Geimpfte und Genesene waren und sind bereit, zeitweise in einen allgemeinen Lockdown zu gehen – tragen auch die Ungeimpften im Interesse aller die von einer demokratisch legitimierten Regierung verordneten Maßnahmen mit? Dass wir in einer Demokratie ohne Wahlbetrug leben, haben zuletzt Wahlen, bei denen die Kommunisten und eine Impfgegner-Partei unerwartete Erfolge erzielten, bewiesen.

Guter Wille zum Zusammenhalt ist gefragt, um die Zentrifugalkräfte in unserer Gesellschaft zu stoppen. Dazu gehört die Erkenntnis, dass es in einer Gesellschaft eines Mindestmaßes an Einigkeit bedarf, wenn wir große gemeinsame Gegner, das Virus und die Klimaveränderung, in Schach halten wollen. Sonst wird nicht nur die Pandemie zur endlosen Geschichte, sondern auch die Erreichung der global vereinbarten Klimaziele – im Interesse der nächsten Generationen eine absolute Notwendigkeit! –  völlig unrealistisch. Wir brauchen dringend mehr Gemeinschaft und mehr Team-Spirit, keine Spaltung!

Weihnachten 2021 ist wie im Vorjahr nicht das übliche Fest, weil wir seit fast zwei Jahren in einer Krise leben, die weder die oft hilflosen Politiker noch die auf Eigenverantwortung pochenden Bürger bewältigt haben. Was wir brauchen, sind Hoffnung, ein Überwinden unserer Ängste und viel guten Willen, um alle gemeinsam – die Politik, die Experten und einzelne Gruppen allein sind dazu zu schwach – die Probleme zu lösen. All das könnte uns die Weihnachtsbotschaft geben. „Fürchtet euch nicht“, heißt es dort, „Heute ist euch der Retter geboren“ und „Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden den Menschen guten Willens“. Diese Sätze sollen nicht nur gläubigen Christen, für die sie natürlich besondere Bedeutung haben, ein Trost sein und nicht nur den daraufhin voll Vertrauen nach Bethlehem pilgernden Hirten, sondern allen Menschen Aufbruchsstimmung vermitteln.

Kategorie: Allgemein, Ereignisse, Feature, Texte

von

Dr. Heiner Boberski

geb. 1950, Studium der Theaterwissenschaft und Anglistik in Wien; 1978–2001 Redakteur der Wochenzeitung "Die Furche", ab 1995 deren Chefredakteur; 2004-2015 Journalist bei der "Wiener Zeitung"; derzeit freier Journalist. Autor mehrerer Sachbücher, vorwiegend zu Fragen der Religion. Er ist verheiratet und hat drei Kinder.

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