Die heutige ÖVP wird mit einigem Recht von vielen Katholiken nicht mehr als christlich-soziale Partei empfunden.
Vorabdruck aus der Zeitschrift „Quart“
„Mir ist ein anständiger Nazi lieber als so ein falscher Christlich-Sozialer!“ Diese Aussage von Bruno Kreisky überliefert der aus der „Arbeiter-Zeitung“ hervorgegangene ehemalige ORF-Journalist Ulrich Brunner in einem neuen Buch über den heute bereits legendären sozialdemokratischen Bundeskanzler. Sie beruhte darauf, dass ein im „Ständestaat“ mit dem jungen Kreisky inhaftierter illegaler Nationalsozialist seinem jüdischen Mithäftling nach dem „Anschluss“ die rettende Ausreise ermöglichte. Kreiskys Abneigung gegen die „falschen Christlich-Sozialen“ ging bekanntlich sogar so weit, dass er kein Problem damit hatte, seine Minderheitsregierung vom ehemaligen SS-Mann Friedrich Peter stützen zu lassen, ehemalige NSDAP-Mitglieder in seine Regierung zu holen und am Ende seiner Kanzlerschaft die Weichen für eine SPÖ-FPÖ-Koalition zu stellen, wenn er nur die ÖVP von der Regierung fernhalten konnte.
Niemand wird bestreiten, dass die Wurzeln der ÖVP in der christlich-sozialen Bewegung des späten 19. Jahrhunderts liegen, die sich an der ersten Sozialenzyklika „Rerum novarum“ (1891) von Papst Leo XIII. orientierte. Wie weit die Umsetzung christlicher Grundsätze in die Politik der damaligen Partei, der bekanntlich auch zynische Antisemiten wie der sonst sehr tüchtige Wiener Bürgermeister Karl Lueger an führender Stelle angehörten, gelungen ist, darüber lässt sich trefflich streiten. Ob eine solche Umsetzung in nennenswertem Ausmaß überhaupt möglich ist, ob die Botschaft des Jesus von Nazareth nicht nur für weltfremde „Gutmenschen“ und Sozialromantiker taugt, aber nicht zum Lenken von Staat oder Wirtschaft, werden viele in Frage stellen. Wenn sich jedenfalls eine Partei auf christlich-soziale Werte beruft, müsste es eines ihrer Hauptmerkmale sein, dass sie erkennbar versucht, die Gesellschaft, im christlichen Sinn mitzugestalten.
Hört man sich 2020 in Österreich um, fällt auf, dass die Zahl jener, die in der ÖVP mehr „falsche“ als „echte“ Christlich-Soziale orten, in den letzten Jahren sicher nicht nur unter deren traditionellen politischen Gegnern, ob rechts oder links, sondern auch unter praktizierenden Katholiken gewachsen ist. „Gibt es in der türkisen ÖVP keine christlich-sozialen PolitikerInnen mehr?“ wurde kürzlich auf Facebook von einer ehemaligen ÖVP-Bezirksmandatarin gefragt. Die Antworten reichten von singulärem Unverständnis über die Frage – natürlich gebe es solche – über die Nennung einzelner Namen (wie Gudrun Kugler, Martin Engelberg, Othmar Karas), was einen eigenen Kommentar wert wäre,
bis zu zahlreichen kritischen Kommentaren. Vorwiegend wurde beklagt, dass die eventuell noch vorhandenen Christlich-Sozialen in der Partei weitgehend kritiklos dem „Messias“ Sebastian Kurz huldigen.
Auch abseits dieser Facebook-Kommentare ist oft der Vorwurf zu hören, dass viele führende ÖVP-Politiker – wohl „message control“-gesteuert – so agieren, als ob sie Marionetten oder Sprechpuppen des Bundeskanzlers wären. Der gegenwärtige Kurs der ÖVP, insbesondere gegenüber Migranten, aber auch anderen von Armut und Bildungsmangel gefährdeten Personen, wird auch von vielen ehemaligen prominenten ÖVP-Leuten wie etwa Heinrich Neisser oder Christian Konrad als absolut nicht christlich-sozial betrachtet. Einzelne argwöhnen sogar, dass hinter den Eingriffen der Bischofskonferenz bei der stets als „zu weit links“ eingestuften Katholischen Sozialakademie Wünsche aus dem türkisen Lager stehen.
Natürlich werden der Kanzler und seine Anhänger diese Kritik energisch und wortreich zurückweisen. Aber überzeugen können sie damit nicht, solange das von ihnen regierte Österreich erpicht darauf ist, ausländischen Arbeitnehmern aus ärmeren Ländern die Familienbeihilfe zu kürzen, oder strikt verweigert, auch nur wenige Familien oder unbegleitete Flüchtlingskinder aus griechischen Lagern aufzunehmen. Eine Partei, die christlich-sozial sein will, müsste trotz aller Bedachtnahme auf politische „Sachzwänge“ und allen Buhlens um Wählerstimmen erkennen lassen, dass Nächstenliebe das wichtigste Prinzip des Christentums ist, und diese Nächstenliebe äußert sich nicht im ständigen stolzen Verweis auf das Schließen von Flüchtlingsrouten. Das gleichzeitige Beklagen einer gesamteuropäischen Lösung in der Flüchtlingsfrage wirkt wenig glaubhaft, wenn man ausgerechnet mit jenen „Visegrad-Staaten“ sympathisiert, die sich einer solchen Lösung vehement widersetzen.
Den christlichen Grundsatz „Liebe Deinen Nächsten!“ und das Prinzip der Solidarität mit Armen und Verfolgten ersetzen viele Politiker im In- und Ausland, die sich als Christen deklarieren, durch den Satz „Liebe zuerst Deine Landsleute!“ Wer das biblische Gleichnis vom barmherzigen Samariter kennt, sollte wissen, dass christliche Nächstenliebe vor allem dem Notleidenden, mit dem man gerade konfrontiert ist, zu gelten hat – unabhängig von der nationalen Herkunft!
Österreichs Regierung hat in der Corona-Krise nicht alles richtig gemacht, aber meiner Meinung nach mehr Anerkennung verdient, als es die Opposition und auch etliche kritische Medienberichte wahrhaben wollen. Diese Krise hat andere Themen (Klimawandel, Flüchtlinge) in den letzten Monaten in den Schatten gestellt, aber diese Themen holen uns bald wieder ein. Und es ist traurig, dass die angeblich traditionell christlich-soziale Partei in diesen brennenden Fragen von anderen Grupperungen an Lösungsvorschlägen im Sinne der Menschlichkeit deutlich übertroffen wird.
Warum es gerade jetzt aktuell ist, die ÖVP daran zu erinnern, dass das Verlassen einer christlich-sozialen Politik bei etlichen ihrer traditionellen Wähler genau so ankommt, als würden die Grünen auf Umwelt- und Klimaschutz vergessen?
Vor genau fünf Jahren hat die deutsche Kanzlerin Angela Merkel, damals auch Vorsitzende der noch das hohe C im Namen führenden CDU, mit dem Satz „Wir schaffen das!“ Hunderttausende Flüchtlinge in Deutschland aufgenommen. Es handelte sich um eine einmalige, hoffentlich nicht wiederkehrende Situation, in der rasches humanitäres Handeln ein Gebot der Stunde war. Sie hat damit vor allem dem ungarischen Präsidenten Viktor Orban eine große Last abgenommen, von ihm aber nur Undank und Kritik geerntet und sich zugleich in Deutschland viel Ärger und Häme eingehandelt. Ihre Partei hat seither viele Stimmen verloren. Das ändert nichts daran, dass ich diese Frau als Mensch und Politikerin nach wie vor bewundere, denn „echten“ Christlich-Sozialen sollte das Bewahren von Haltung etwas mehr wert sein als das populistische Maximieren von Wählerstimmen.
Sehr geehrter Herr Dr. Boberski,
Sie sprechen mir aus der Seele.
Die ÖVP ist gerade dabei, vor lauter Angst um Wählerstimmen die Freiheitlichen rechts zu überholen – menschenverachtend und populistisch! Für mich als Christin ist diese türkise Partei nicht mehr wählbar. Auch wenn die Landeshauptleute der westlichen Bundesländer für sich noch andere Werte haben, müssten sie endlich den Mund aufmachen und einem Kanzler Kurz entgegentreten.
Mit einem freundlichen Gruß aus Tirol
Sr.M.Gerlinde Kätzler